Täter-Opfer-Umkehr + Verharmlosung

Pressemitteilungen der Polizei in der Kritik: Meldungen im „Blaulicht-Presseportal“ der Polizei werden von lokalen Tageszeitungen und Anzeigenblättern oft unverändert übernommen. Warum ist das ein Problem? Von Guido Possehl.

In den sogenannten „Blaulicht“-Meldungen werden von den Polizeibehörden tagtäglich Pressemitteilungen zu Straftaten und Unfällen veröffentlicht. Sie sind Bestandteil der Öffentlichkeitsarbeit mit eigenen Entscheidungsmustern.

„Das Presseportal der dpa-Tochter „news aktuell“ gehört zu den größten und reichweitenstärksten Nachrichten- und PR-Portalen in Deutschland und gilt als verlässliche Quelle für Medienschaffende, Bloggende, Influencende und Privatpersonen.“ So bewirbt sich das Presseportal selbst.

Im „Blaulicht“ werden Unfälle zwischen zu Fuß Gehenden und Radfahrenden und einem motorisierten Fahrzeug allerdings häufig so geschildert, als ob die nicht motorisierte Person einen Fehler gemacht habe. Die das Kraftfahrzeug führen, bleiben oft im Verborgenen und wirken unbeteiligt. In den Pressetexten werden Kollisionen verharmlost, es wird suggeriert, dass sie schicksalhaft seien, und niemand eine Schuld habe. Es wird Täter-Opfer-Umkehr (so genanntes „Victim-Blaming“) betrieben, und es verbleibt schlussendlich oft das Gefühl, dass Radfahrende zu blöd seien, am Verkehr teilzunehmen und selbst die Schuld am Unfall tragen. Einige Beispiele aus Mönchengladbach:

Das Auto traf den Radfahrer?

„…fuhr der 19-Jährige gegen 11 Uhr auf dem Radweg in Richtung Weiher. Eine 36-jährige Autofahrerin beabsichtigte etwa zeitgleich aus einer Hauseinfahrt zu fahren. Es kam zum Zusammenstoß zwischen der Autofahrerin und dem Radfahrer. Das Auto traf den 19-Jährigen an der rechten Seite und er stürzte.“

Die Autofahrerin wird zwar erwähnt, ist aber ab dem Zusammenstoß nicht mehr anwesend.
Das Auto traf den 19-jährigen. Und „traf“ ist verharmlosend, „rammte“ träfe es besser.

Der Bus war schuld?

„…ein zur selben Zeit aus gleicher Richtung kommender Linienbus beabsichtigte, an der
Kreuzung nach rechts abzubiegen. Im Bereich der Fußgängerfurt kam es zur Kollision zwischen
Bus und Fußgänger.“ Nur der Bus ist schuld, ein Fahrer war nicht beteiligt.

Eine Berührung?

„…fuhr ein 28-jähriger Mann mit seinem Pkw und bog nach rechts ab. Beim Abbiegevorgang übersah er einen 79 Jahre alten Fußgänger, der gerade die Straße überqueren wollte. Es kam zu einer Berührung zwischen Pkw und Fußgänger, wodurch der Fußgänger stürzte“.

„Übersehen“ und „Berührung“ verharmlosen das Verkehrsvergehen des Autofahrers. Korrekter wäre: „Der Pkw-Fahrer nahm dem Fußgänger das Vorrecht, die Straße zu überqueren und fuhr ihn an, wodurch der Fußgänger stürzte“.

Sie stießen zusammen?

„…ist es zu einem Verkehrsunfall zwischen einer 57-jährigen Autofahrerin und einem 84-jährigen Fahrradfahrer gekommen, bei dem der Mann schwer verletzt wurde. Der 84-Jährige befuhr den Rad- und Fußweg. Eine 57-Jährige beabsichtige aus einer Einfahrt kommend nach rechts auf die Straße einzubiegen. Auf dem Rad- und Fußweg stießen beide zusammen. Der Fahrradfahrer wurde auf die Motorhaube geladen und fiel nach vorne auf die Straße“.

Wieder wird der Eindruck vermittelt, die Autofahrerin sei unbeteiligt und der Radfahrer wäre unachtsam gewesen. Der Radfahrer wurde jedoch umgefahren, ihm wurde die Vorfahrt genommen und Schuld hat nicht die Motorhaube, sondern die Autofahrerin.

Radfahrerin kollidierte mit der Tür?

„…ist es zu einem Verkehrsunfall gekommen, bei dem eine 53-jährige Radfahrerin schwer verletzt wurde. Die Frau war auf dem Radweg unterwegs, als ein 62-jähriger Mann die Beifahrertür eines geparkten Autos öffnete. Die Radfahrerin kollidierte mit der Tür und stürzte.“ Die Überschrift lautet lapidar: „Radfahrerin kollidiert mit Autotür.“

Klassische Täter-Opfer-Umkehr. Eine sachverhaltsgerechte Formulierung wäre: „…als ein 62-jähriger Mann die Beifahrertür eines geparkten Autos öffnete, ohne die gebotene Sorgfaltspflicht zu beachten, konnte die Radfahrerin der geöffneten Tür nicht mehr ausweichen und wurde dadurch verletzt.“

Positiv sei hier erwähnt, dass die Polizei Mönchengladbach seit Jahren im Zusammenhang mit solchen Dooring-Unfällen auf den „holländischen Griff“ verweist, bei dem man die Autotür mit der entfernteren Hand öffnet, um sich so per Schulterblick davon überzeugen zu können, dass die Tür gefahrlos geöffnet
werden kann.

Möglicherweise ist der Radfahrer … ?

Auch in anderen Kommunen sieht es nicht besser aus. Originalton einer Pressemitteilung der Kreispolizeibehörde Viersen: „…als ein Pedelec-Fahrer in den Kreisverkehr fuhr, stieß er mit einem Kleinbus zusammen, den ein 62-jähriger … steuerte. Der Radfahrer stürzte und wurde schwer verletzt. … Möglicherweise ist der Radfahrer geradeaus über den Kreisverkehr gefahren.”

Kein Wort davon, dass der Radfahrer sich im Kreisverkehr befand und ihm der Kleinbusfahrer aus der Seitenstraße kommend die Vorfahrt genommen hatte. Dass in einer offiziellen Pressemitteilung auch noch spekuliert wird (“Möglicherweise ..”) setzt dem Fass die Krone auf.

Warum sind solche Formulierungen in den Polizeimeldungen problematisch?

Redakteure und Redakteurinnen bei Tageszeitungen und Anzeigenblättern übernehmen die Formulierungen aus den Polizeimeldungen oft unverändert. Diese Berichterstattung ist vielleicht noch nicht einmal böse Absicht, weil man sich so daran gewöhnt hat, dass die Straße für den Autoverkehr da ist. Mit jeder solch aus der Autofahrerperspektive formulierten Meldung und deren Verbreitung wird allerdings genau dieser Eindruck manifestiert.

Schuldumkehr!

Durch Formulierungen wie „Die Radfahrerin wurde angefahren“ statt „Der Autofahrer fuhr die Radfahrerin an“ wird Autoverkehr als Norm dargestellt, während die Daseinsberechtigung anderer Verkehrsteilnehmenden subtil in Frage gestellt wird. Zudem wird die Verantwortung Autofahrender minimiert, und es wird von deren aktiven Rolle abgelenkt. Dies schafft den Eindruck, dass solche Unfälle unvermeidlich sind, und dass niemand wirklich verantwortlich ist.

Die Täter-Opfer-Umkehr verschiebt die Schuld auf die schwächeren Verkehrsteilnehmer und erzeugt ein Bild, dass diese Personen unvorsichtig oder zu ungeschickt sind. Beispielsweise wird bei der Formulierung wie „Radfahrerin kollidiert mit Autotür“ die Verantwortung auf die Radfahrerin übertragen, obwohl der Autofahrer die Tür unvorsichtig geöffnet hat. Formulierungen wie „Es kam zum Zusammenstoß“ entziehen den beteilig-ten Personen die aktive Rolle und somit auch die Verantwortung. Die Art und Weise, wie die Berichte teils formuliert sind, stärkt die gesellschaftliche Norm, dass Straßen hauptsächlich für Kraftfahrzeuge da sind. Andere Verkehrsteilnehmer erscheinen als störende Elemente, die sich den Regeln und der Dominanz der Autos anpassen müssen.

Der ADFC Mönchengladbach hatte den Leiter der Direktion Verkehr und die Leitung der Pressestelle bereits in 2023 mit dem Anliegen konfrontiert, bei den Pressemitteilungen ausgewogener zu formulieren. Beantwortet wurden die Forderungen so: „Inhaltlich gebe es landesweite Vorgaben, daran halte man sich. Man sei aber sensibilisiert, nehme die Hinweise auf und hoffe auf weiteren Dialog.“

Korrekte Darstellung

Und da gab es am 14.3.2024 mit folgender Veröffentlichung im Blaulicht-Portal einen Lichtblick mit der Schilderung eines Dooring-Unfalls, bei dem eine 37-jährige Radfahrerin verletzt wurde: „…als ein 35-jähriger Autofahrer, der am Fahrbahnrand geparkt hatte, plötzlich die Fahrertür seines Wagens öffnete, ohne auf den von hinten kommenden Verkehr zu achten. Laut eigenen Angaben konnte die 37-Jährige trotz Vollbremsung einen Zusammenstoß mit der Tür nicht mehr verhindern und prallte
dagegen.“

Es folgte die Empfehlung „Holländischer Griff“. Hier wurde die Unfallursache korrekt benannt, die Schuldfrage bleibt hier nicht offen. Zwar könnte man sich wünschen, dass die Verletzung der Sorgfaltspflicht des Autofahrers noch stärker betont wird (§ 14 StVO: „Wer einoder aussteigt, muss sich so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist.)“.

Schaut man sich die Schilderungen aller Dooring-Unfälle im Blaulicht MG in chronologischer Reihenfolge von alt nach neu an, so ist zumindest eine aus Radfahrer-Sicht eine positive Entwicklung in den Formulierungen erkennbar.

Auch eine weitere Meldung vom 2.4.2024 zeugt möglicherweise von einem Umdenken: „Bei einem Verkehrsunfall hat eine 71-jährige Autofahrerin mit ihrem Wagen einen 13-jährigen Jungen auf seinem Fahrrad erfasst. Laut eigenen Angaben hatte die 71-Jährige nach rechts abbiegen wollen. Zu spät nahm sie dabei den aus ihrer Sicht von rechts kommenden Radfahrer wahr, der die Fahrbahn überquerte. Sie
stieß beim Anfahren mit ihrem Fahrzeug gegen den Jungen. Dieser stürzte und erlitt leichte Verletzungen.“

Hier sind es aktive Formulierungen, hier bleibt nicht der Eindruck der Zwangsläufigkeit stehen, hier gibt es keine Täter-Opfer-Umkehr.

Der ADFC Mönchengladbach wird bei diesem Thema am Ball bleiben und die Pressemitteilungen weiter beobachten und analysieren. Wir wollen langfristig eine ausgewogenere und gerechtere Berichterstattung erreichen. Polizei und Medien können durch bewusste Sprachwahl dazu beitragen, ein realistisches Bild des Straßenverkehrs zu zeichnen und die Sicherheit und Rechte aller Verkehrsteilnehmer gleichermaßen zu berücksichtigen.

Von den Medien, die Pressetexte der Polizeibehörden auswerten und zitieren, wünschen wir uns ausgeglichene Formulierungen und kritische Beurteilung der Darstellung.

Blaulicht-Portal

www.presseportal.de/blaulicht
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