Darum ist gutes Rad teuer

Innovationen aus dem Auto halten Einzug in den Fahrradbau. Nirgends wird das so deutlich wie bei den modernen Liegedreirädern.

Na, wie war das beim jüngsten Fahrradausflug mit der Familie? Nach 15 Kilometern schmerzte der Allerwerteste, kurze Zeit später auch der Nacken und die Handgelenke. Da war dann Schluss mit lustig.

ldrei_hp_velotechnik_scorpion_pedelec_freiProbieren Sie’s doch einfach mal mit einem Liegerad. Hinsetzen, zurücklehnen, losfahren und denen zulächeln, die sich noch gebeugt auf einem normalen Rad quälen – so macht es der erfahrene Liegeradler. Und es gibt einen weiteren entscheidenden Vorteil: „Liegeradler lieben länger!“ behaupten Paul Hollants (35) und Daniel Pulvermüller (37), denn die bequeme Fahrhaltung sei nicht nur gut für Po und Bandscheiben, sondern auch für die Familienplanung, wie Urologen bestätigten. Die beiden jungen Unternehmer müssen’s wissen, denn mit ihrer Manufaktur HP Velotechnik in Kriftel vor den Toren Frankfurts sind sie Europas Liegerad-Hersteller Nummer Eins. Und seit jeher zählen die Produzenten dieser speziellen Räder zu den Innovationstreibern der Fahrradbranche. Pate bei den neuen Entwicklungen steht nicht selten die Automobilindustrie.

Konzept Kleinwagen zu Ende gedacht

Vor einigen Jahren stellten die beiden ein Liegerad auf drei Räder – und rückten damit näher ans Fahrgefühl des Autos ran. Der „Scorpion“ war geboren. Dieses Dreirad machte die Gattung in Europa hoffähig und zu einem Erfolgsprodukt: Die Hälfte der jährlich produzierten 1_300 Liegeräder (Preis ab 2_000 Euro) kommt inzwischen auf drei Reifen daher. Hollants und Pulvermüller halten den Trend zu mehrspurigen Rädern für eine logische Entwicklung: „Irgendwann lassen sich Kleinwagen einfach nicht noch kleiner machen. Dann steht am Ende der Entwicklung das muskelbetriebene Dreirad mit Elektroantrieb-Unterstützung für die tägliche Fahrt zur Arbeit.“ Nebenbei bemerkt: Das voll ausgestattete Dreirad mit E-Antrieb kostet so viel wie ein gebrauchter Kleinwagen.

Keine Kompromisse bei der Technik

ldrei_Scorpion_fs_federung_vr_detailDafür gibt es aber zum ersten Mal in einem Rad all jene Fahrwerksleckerbissen, die wir aus dem Auto kennen: Auch der Golf hat Einzelrad-Aufhängung, McPherson-Federbeine, die ein in jeder Situation sicheres Fahrverhalten gewährleisten. Sogar der Stabilisator fehlt nicht, der die zu starke Neigung des Fahrzeugs in schnell gefahrenen Kurven verhindert. Und am Hinterrad bügelt eine Luftfederung, wie es sie nur bei wenigen Pkw der Luxusklasse gibt, Schlaglöcher weg.

Bei der Entwicklung der Räder setzt der Betrieb auf CAD-Software, wie sie auch in der Großindustrie zum Einsatz kommt. Denn etwa 50 Teile an einem Rad sind Spezialanfertigungen. Hollants: „Bei einem Gefährt aus dem Baumarkt ist meist nur der Schriftzug-Aufkleber extra gestaltet.“

Stichwort Bremsen: Hier haben sich die Radbauer die Scheibenbremsen bei den Kollegen der Autozunft abgeschaut. Und wenn’s richtig gut sein soll, dann wird auf Seilzüge verzichtet und hydraulisch gebremst. Merke: Hydraulik-Bremsen frieren im Winter nicht fest und Scheibenbremsen haben auch wenn’s regnet Grip.

Für 80 Euro um die Welt

Bei der sich rasant entwickelnden Fahrradbeleuchtung war es nicht die Autoindustrie, die den Taktgeber markierte, sondern der Gesetzgeber, der für Innovationsdruck sorgte. Maschinenbau-Ingenieur Pulvermüller: „Um den Autofahrer nicht zu blenden, muss sich die Beleuchtung am Fahrrad seit jeher mit sechs Volt und drei Watt zufrieden geben. Also mit so gut wie nichts.“ Die LED-Technik brachte hier den Durchbruch von der „Positionsleuchte“ hin zum Licht, das weit reicht und die Straße bei Dunkelheit hell macht. Übrigens: Beim Auto werden LEDs noch nicht als Hauptbeleuchtung eingesetzt.

Bleiben wir beim Thema elektrischer Strom: Beim Hybridantrieb hat der Fahrradbau die Nase vorn: Hier werden heute bereits moderne Lithium-Ionen-Akkus verwendet. Aber er hat’s ja auch im wahrsten Sinne des Wortes leichter, wenn man bedenkt, das ein Auto durchaus 100 mal so viel wiegt wie ein E-Rad. Die geringe zu bewegende Masse macht das Dreirad sparsam. Das Effizienz-Geheimnis sind leichte, leistungsstarke Radnabenmotoren. Pulvermüller: „Da will die Autoindustrie auch hin.“ Eine E-Ladung, die für bis zu 90 Kilometer reicht, wenn mitgestrampelt wird, kostet sieben Cent. Hollants rechnet vor: „Für 80 Euro kann man einmal um die Welt radeln mit Elektro-Unterstützung.“

Fotos: HP Velotechnik

„Dreirad macht irre Spaß“
Wer ein Liegedreirad sucht im Erscheinungsgebiet von RaNR, für den ist „Fahrräder Michels“ am Stationsweg 40-42 in Mönchengladbach eine gute Adresse.
Als Mann der täglichen Verkaufs- und Beratungspraxis weiß Hartmut Michels ganz genau, welche Kunden denn zum Dreirad greifen: „Da gibt es zwei Gruppen. Die erste umfasst jene Fahrradenthusiasten, die tolle Technik und tolle Fahrräder lieben. Die suchen einfach das Besondere und sind bereit, dafür einiges auszugeben. Die zweite Gruppe besteht aus Menschen mit einem Handicap, denen es das Dreirad ermöglicht, sich wieder auf einem Rad zu bewegen und etwas für die Fitness zu tun.“
Dreiräder werden – so Michels – zumeist als Fun- und Freizeitmobil gekauft. Aber es gibt auch Leute darunter, die seit eh und je das Rad nutzen und damit zum Beispiel zur Arbeit fahren, es nun nur etwas bequemer haben wollen. Michels: „Wir haben aber auch schon einen Käufer gehabt, der mit dem Scorpion sein Auto ersetzt hat.“
Wie auch immer: Wer bereit ist für eine neue Rad-Erfahrung, der sollte auf jeden Fall ein Liegedreirad ausprobieren. Nicht nur Michels weiß, warum: „Das macht einfach irre viel Spaß!“
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