Vorwort

Editorial zur Sommersausgabe 2016. Von Heinrich Böll und Thomas M. Claßen.

bundesarchiv_b_145_bild-f062164-0004_bonn_heinrich_boell… Es war eine Art Vertreibung, und so wurde ich vom Spaziergänger zum Radfahrer, wich in entfernte Vororte, in den Grüngürtel aus, fuhr den Rhein herauf und herunter zwischen Niehl und Rodenkirchen nach Deutz. Das Radfahren wurde mir lieb, Radfahren mein einziger, ausgiebig betriebener Sport. … Ich erkundete unbekannte Vororte, fuhr rheinab- oder aufwärts an stille Stellen des Ufers, las (ja, auch Hölderlin). Mit Flickzeug, Luftpumpe, einer Karbidlampe war ich unabhängig, fast mit nur ein paar Büchern auf dem Gepäckständer und ein wenig Tabak in der Tasche fast ein „Reisender ohne Gepäck“. Es blieb das unersetzliche, fast heilige Fahrrad, dieses flinke Vehikel der Mobilität, Fluchtgefährt leichter Bauart, vieler Hymnen würdig und … das einzig zuverlässige, wertvollste mechanische Fortbewegungsmittel. Was braucht ein Auto alles? Schwerfällig ist es, genau besehen, abhängig von tausend Kleinigkeiten, ganz zu schweigen vom Brennstoff, von den Straßen. Wo kommt man mit dem Fahrrad noch durch und nicht zu vergessen: der Vietnamkrieg wurde mit Fahrrädern gewonnen, gegen Panzer und Flugzeuge. Flickzeug, Luftpumpe, Lampe leichtes, fast gar kein Gepäck und was lässt sich notfalls alles an ein Fahrrad hängen, ihm aufladen? …
Heinrich Böll

[Text aus „Was soll aus dem Jungen bloß werden?“ mit freundlicher Genehmigung der Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co.KG
Foto: Bundesarchiv, Hoffmann, Harald / CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/i
ndex.php?curid=5470614]

autor_Thomas_M_Classen_ohWas Heinrich Böll irgendwann zwischen 1933 und 1937 schrieb, klingt heute wahrscheinlich zeitgemäßer als zu seiner frühen Zeit. Als Klimawandel noch nicht im Duden stand, dachte er schon an Brennstoffvergeudung und Autostraßenbauwahn. Achtzig Jahre später soll ein anderer Treibstoff der Heilsbringer der Moderne werden. Dabei ist eher nebensächlich, ob KFZ mit oder ohne „E“ den alltäglichen Stau verursachen, denn auch „E“ muss erst mal produziert werden und kommt nicht einfach so aus der Streckdose in den Akku. – Ein markanter Anstoss zur Denkwende in der Verkehrspolitik kommt gerade aus der Hauptstadt. Die Berliner Initiative „Volksentscheid Fahrrad“ packt an, was Politik und Verwaltung noch Jahrzehnte nach Böll versäumen. Dass nun der Senat der Stadt den Volksentscheid ablehnt und hinauszögert ist hinreichend peinlich, wird aber die Bewegung letztlich nicht stoppen. – Wie sieht es bei uns im Rheinland aus? Was sagen Sie, liebe Leser? Ihre Meinung interessiert uns. Schreiben Sie an: Rad am Niederrhein, Erftstraße 12, 41460 Neuss oder per E-Mail an leserbrief@radamniederrhein.de.
Thomas M. Claßen

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