Als 2021 ein neuer Bundestag gewählt war und klar wurde, dass eine Ampelkoalition mit SPD und GRÜNEN an der Spitze stehen würde, keimte Hoffnung in der Fahrradszene auf. Wo stehen wir heute? Eine Standortbestimmung.
Die Liste der Bundesverkehrsminister der CSU ist lang, die unselige Besetzung begann 1982 mit Werner Dollinger, Jürgen Warnke und Friedrich Zimmermann. Danach übernahm 1991 die Schwesterpartei CDU und krönte das Ressort 1993 mit Matthias Wissmann, der 2007 unmittelbar nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag als Präsident an die Spitze des Verbandes der Automobilindustrie wechselte.
Ein Blick zurück
Es folgten elf Jahre SPD, aber nur der Name des Ministeriums mit „Verkehr“ variierte in der Zeit, bevor mit Peter Ramsauer wieder ein Christsozialer ans Steuer des autolastigen Koloss gelassen wurde. In Erinnerung blieben Alexander Dobrindt, der das Amt nur um der eigenen Karriere willen annahm, und Andreas Scheuer, der die Pkw-Maut vertraglich vereinbarte, bevor sie der Europäische Gerichtshof kippte. Der Steuerzahler blieb so auf einem Vertragsstrafenschaden von sage und schreibe 245 Millionen Euro sitzen.
2019 erlaubte ein StVO-Intermezzo bundesweit den Betrieb von Elektrokleinstfahrzeugen, besser bekannt als E-Scooter. Leider wurden im Gesetz eindeutige Regelungen vergessen, so dass Verwaltungsgerichte noch lange mit Klagen von Verleihern gegen kommunale Regeln beschäftigt sein werden.
Das umfängliche Desaster des Ministers lässt fast vergessen, dass Herr Scheuer – zwar verfahrensholprig – aber letztlich erfolgreich die 2020er-StVO-Novelle auf den Weg gebracht hat und damit tatsächlich mehr theoretische Sicherheit für Radfahrende. Erwähnenswert sind der Mindestabstand
beim Überholen von Radfahrenden, der Grünpfeil zum freien Rechtsabbiegen (VZ 721), das neue Schild „Überholverbot von Zweirädern“ (VZ 277.1) und das erweiterte Parkverbot von acht Meter Abstand vor Kreuzungen und Einmündungen neben baulich angelegten Radwegen. Außerdem haben wir dem letzten CSU-Bundesverkehrsminister einen Nationalen Radverkehrsplan zu verdanken, nach dem der Bund fast 1,5 Milliarden Euro in Radwege, Radparkhäuser und auch Studiengänge und Professuren für Radverkehr stecken wollte. Scheuer vollmundig im April 2021: „Deutschland soll zum Fahrradland werden“.
Erwähnt sei noch, dass das Bundesverkehrsministerium unter Dobrindt und Scheuer von 2014 bis 2018 vorrangig vor allen anderen Bundesländern den Ausbau der Straßen in Bayern finanzierte. Immerhin 551 Millionen Euro flossen in den Fernstraßenbau des Freistaats. Pikant, das Geld stammte aus Mitteln, die für Bahnprojekte, den Radwegebau oder die Verkehrsforschung nicht abgerufen wurden.
All diesen Verkehrsministern gemeinsam war, dass das Autowunderland Deutschland stetig weißer Fleck in der Tempolimitkarte – nicht nur – der Europäischen Union blieb.
Vorreiter NRW
Derweil sammelte in NRW von 2018 bis 2019 die Volksinitiative „Aufbruch Fahrrad“ 206.687 Unterschriften für die Stärkung des Radverkehrs im bevölkerungsreichsten Bundesland. Die Idee kam vom Kölner Verein Radkomm e.V., der ADFC war schnell führend mit dabei. Das Ziel wurde erreicht, NRW hat als erstes und bislang einziges Flächenland im November 2021 ein eigenes Fahrradgesetz verabschiedet, auch wenn der gewünschte harte Zahlenplan „in NRW den Anteil des Rads am Gesamtverkehr bis 2025 auf 25 % zu erhöhen“ nicht im Gesetzestext verankert wurde.
Wende
2021 hätte das Jahr der Verkehrswende werden können. Die Bundestagswahl brachte neue Mehrheiten, die SPD wurde stärkste Partei, die GRÜNEN dritte Kraft und gemeinsam stellten sie 324 der 736 Sitze im gesetzgebenden Parlament der Bundesrepublik. Keine Mehrheit, aber nach einem Monat Koalitionsverhandlungen war im November auch die FDP im Boot – und stellte ab Dezember mit Volker Wissing den neuen Bundesminister für Digitales und Verkehrs.
Beim Geschacher um Inhalte und Ministerpositionen blieb die von der neuen Regierung erwartete Verkehrswende weitgehend auf der Strecke. SPD und GRÜNE stellten Kanzler und Vize, besetzten ihre „geborenen“ Ressorts und überließen Finanzen und Verkehr der FDP.
Derweil erhoben sich mancherorts Kommunalpolitiker zu Gralshütern öffentlicher Parkplätze und polemisieren mit Biergartenparolen gegen Pläne zur Einrichtung sicherer Wege für den Radverkehr. Die für den kontinuierlich zunehmenden Radverkehr notwendige Neuaufteilung des Straßenraums, vor allem in den Städten, wird systematisch hintertrieben, obwohl private Pkw durchschnittlich 23 von 24 Stunden eine Parkfläche blockieren, weil sie ungenutzt „herumstehen“. Tatsächlich benötigt jedes Fahrzeug sogar drei Parkstände, damit die Nutzung eines Pkw überhaupt möglich ist. Ein wohnortnaher Platz, einer an der Arbeitsstätte und ein dritter für alles Weitere wie am Supermarkt, Theater, Kino oder Restaurant.
Taktgleich schlagen IHK, Handels- und andere Verbände Alarm und machen – wider besseren Wissens – die Verödung der Innenstädte durch mehr Radverkehr als Ursache allen Übels aus. Dabei haben etliche internationale Studien längst aufgezeigt, dass in Städten wie New York, Wien und Zürich das Einkaufspotential durch Radfahrende insgesamt beachtlich ist. Menschen mit dem Rad kaufen bevorzugt dort ein, wo sie wohnen oder arbeiten, besuchen den lokalen Einzelhandel häufiger als die mit Pkw. Shopper und Bummler belassen ihre Kaufkraft bevorzugt in der eigenen Gemeinde und sichern so die Struktur der Ortskerne. Der Handel kann durch die längere Verweilzeit von Radfahrenden eine bessere Stammkundenbeziehung aufbauen.
2022 befragte das Potsdamer Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) Kundinnen und Kunden und den Einzelhandel in Berliner Citylagen. Nur sieben Prozent der Befragten hatte die Einkaufsstraßen mit dem Auto erreicht. 91 Prozent des Geldes, das in den lokalen Geschäften ausgegeben wurde, kam von denen die zu Fuß, per Rad oder mit dem ÖPNV unterwegs waren.
Tempo
Eine wirklich kostengünstige Lösung zu mehr Sicherheit für Fuß- und Radverkehr wäre ein flächendeckendes Tempo-30 in den Städten, so wie es die EU seit Jahren vorschlägt. Das wünschen sich auch 890 Deutsche Städte, Gemeinden und Landkreise, um die Geschwindigkeit auf ihren Straßen baldmöglichst drosseln zu können – und damit auch die Unfallzahlen. Studien haben ergeben, dass ein Aufprall bei 50 km/h in 9 von 10 Fällen zum Tode oder zu schweren Verletzungen führt, bei Tempo 30 dagegen nur in 1 von 10. Auch ADFC, VCD und die Deutsche Verkehrswacht e. V. unterstützen die Initiative.
Während die Zahl der Toten und Schwerverletzten im Straßenverkehr seit Jahren stark rückläufig ist, hat sich der Anteil von Radfahrerinnen und -fahrern an den Verkehrstoten seit dem Jahr 2000 fast verdoppelt (siehe Grafik unten).
Bisher fehlt für eine allgemeine Anpassung der Geschwindigkeitsgrenze jedoch eine Änderung des Straßenverkehrsgesetzes. So darf Tempo 30 nur an besonders gefährlichen Stellen, vor Kindergärten, Schulen, Altenheimen und Krankenhäusern oder zum Lärmschutz eingerichtet werden. Die Folge ist oft ein Flickenteppich und Schilderwald von Geschwindigkeitsbegrenzungen zwischen 20, 30 oder 40 km/h, manchmal auf wenigen 100 Metern.
In Meerbusch-Lank musste gerade eine seit vielen Jahren gut funktionierende Tempobremse in der Altstadt vorübergehend aufgehoben werden, weil das Verwaltungsgericht die Auffassung vertritt, dass dieser Eingriff in den Autoverkehr unverhältnismäßig sei. Die Stadtverwaltung geht dagegen in die
zweite Instanz und konnte immerhin einen Aufschub bis zur endgültigen Entscheidung erwirken.
Sicherheit
Bundverkehrsminister Wissing mauert und lehnt eine Reduzierung der Regelgeschwindigkeit von 50 km/h kategorisch ab, obwohl gemäß Koalitionsvertrag der Ampel das Straßenverkehrsrecht so angepasst werden soll, dass neben der Flüssigkeit und Sicherheit des gesamten Verkehrs auch die Ziele des Klima- und Umweltschutzes, der Gesundheit und der städtebaulichen Entwicklung berücksichtigt werden sollen.
Während in Skandinavien, Benelux, den Alpenrepubliken und selbst in den als autoverliebt verschrienen südeuropäischen Ländern längst der große Weichenhebel zur Verkehrswende und mehr Energieeinsparung und Klimaschutz umgelegt wurde, setzt die deutsche Verkehrspolitik verzweifelt auf E-Autos und fabuliert von E-Fuels.
Die Chancen der effektiven Verknüpfung von Rad und ÖPNV werden ungenutzt liegen gelassen, inzwischen wird der Platz für Räder sogar reduziert. Lastenräder in der Bahn sind generell nicht zugelassen und die Plätze für normale Räder höchst begrenzt. Das Deutschlandticket brachte laut einer Studie des Mobilfunkanbieters O2 einen deutlichen Anstieg bei Zugreisen von mehr als 30 Kilometern und verbilligte vielen Pendlern ihre regelmäßigen Bahnfahrten erheblich. Nun steht es schon wenige Monate nach seiner Einführung auf der Kippe, weil die Verkehrsbetriebe wegen fehlender Finanzierungszusagen keine Planungssicherheit haben. Das kritisierte zuletzt der grüne NRW-Verkehrsminister Oliver Krischer und fordert, der Bund solle sich bereits jetzt zu seiner „Nachschusspflicht“ bekennen. Ohne diese Zusage sähen die Länder die Durchführung des Deutschlandtickets ernsthaft gefährdet.
Kommunale Praxis
In vielen Kommunen wächst der Frust bei fortschrittlichen Politikern, die umweltbewusst und nachhaltig wirken wollen, weil ihnen an allen Ecken Geld für eine zukunftsgerechte Weichenstellung fehlt.
Fördermittel für den Radverkehr werden gekürzt, Projekte geschoben, Personal gespart. Kaum noch zu verhindern: Mit dem Haushaltsentwurf für 2024 sollen die Investitionen des Bundes in die Radverkehrsinfrastruktur gegenüber 750 Millionen Euro im Etat 2024 um 350 Millionen Euro reduziert werden. Da bleiben nur 400 Millionen Euro für den gesamten deutschlandweiten Radwegeausbau, in Berlin wird gerade fast das doppelte für 3,2 Kilometer Autobahn verschleudert. Eine Katastrophe für Kommunen, die durch Pandemie und Kriegsflüchtlinge eh finanziell völlig überbelastet
sind und neue oder bessere Radwege nicht aus eigenen Mitteln stemmen können.
Dabei werden allein in NRW Jahr für Jahr zig Millionen nicht abgerufen, weil die kommunalen Planungsabteilungen notorisch unterbesetzt sind und etliche Ausschreibungen für neue Stellen ohne Bewerbungen enden. Die durchaus beachtlichen Angebote an Fördermitteln für Nahmobilität und Umwelt dürfen eh in Frage gestellt werden, weil nie das gesamte Budget ausgegeben wird, sondern erhebliche Anteile regelmäßig ins nächste Haushaltsjahr
verschoben werden. Ein Schelm wer Böses dabei denkt.
Selbst beim Vorzeige-Jahrhundertprojekt RS1, dem Radschnellweg über 114 Kilometer vom linksrheinischen Moers quer durch das Ruhrgebiet bis Hamm hakt es an allen Ecken und Kanten. Gerade einmal 22 Kilometer sind seit 2010 fertiggestellt, nur knapp drei in Bau. Begründet in diesem Fall nicht durch fehlende Förderung, eher durch kommunales Versagen oder Vermeiden, bzw. Erhalten möglichst vieler Vor-der-Tür-Parkbuchten.
Kommunale Grabenkämpfe um handtuchbreite Radwege und wachsende Autolagerflächen im öffentlichen Raum bringen weder die Verkehrswende, noch den Strukturwandel unserer Städte voran. Wenn, wie jüngst in Mönchengladbach, eine vierspurige Straße über einen Kilometer weit um zwei Kfz-Spuren reduziert wird, damit eine Protected Bike Lane (PBL) für wirklich sicheren Radverkehr entstehen kann, alarmieren konservative Kräfte in Bürgerversammlungen und reklamieren die Gefahr von Staus, obwohl handfeste Verkehrszahlen das nicht annähernd hergeben.
Dem widerspricht auch eine Studie des SPIEGEL vom Juli 2023 zum Verkehrsfluss in deutschen Städten. Eine umfassende Analyse kommunaler Zählstationen und Daten des Navigationsanbieter TomTom ergab, dass weniger Spuren fürs Auto häufig nur wenig Zeitverluste bedeuten, im Gegenteil sogar den Kfz-Verkehr entlasten und beschleunigen können.
In den USA hat man das längst begriffen. Dort ist es in vielen Städten mit PBLs in kurzer Zeit gelungen viele Menschen aus allen Alters- und Bevölkerungsschichten aufs Rad zu bringen und dies zu vergleichsweise geringen Kosten.
Bei uns poppt gerade eine Diskussion auf, geeignete Radwege für schnelle S-Bikes freizugegeben. Missachtet wird dabei, dass die vorhanden Infrastruktur schon nicht für den für den konventionellen Radverkehr auch nur annähernd geeignet ist: Viel viel mehr Bio- und E-Bikes, auch mit Anhängern, Lastenräder, Liegetrikes, Dreiräder für Menschen mit Handycap. Doch die Idee passt ins Bild. Straßen sollen tunlichst für Kfz reserviert bleiben, da stören wohl S-Pedelecs nur.
Politik in Bund und Ländern muss endlich die Rahmenbedingungen für Radfahrende verbessern und Mut beweisen. Das forderte am Rande der Eurobike im Juni auch der Geschäftsführer des Zweirad-IndustrieVerband (ZIV) Burkhard Stork. In der Pandemie seien viele aufs Rad umgestiegen, nun spricht er
von einem „Rückfall in die Achtziger“ und sieht einen unfassbaren Pendelrückschlag zugunsten des vierrädrigen Verkehrs: „Andreas Scheuer hat die
größte Radwegebau-Offensive auf den Weg gebracht, die es je gab. Nun aber muss auch gebaut werden.“
Auch BMDV-Chef Volker Wissing besuchte die Eurobike und hofft, noch mehr Menschen begeistern zu können, da das (E-)Bike ein hervorragendes und klimaneutrales Verkehrsmittel sei. Gegenüber Imtest/FunkeOne räumte Wissing Nachholbedarf bei der Infrastruktur ein. Gerade für Kinder sei es wichtig, dass sie sich sicher im Straßenverkehr bewegen können und dass es keine Lücken im Radwegenetz geben darf.
Dass er wenige Tage später Fördermittel für den Radverkehr massiv reduzieren würde, erwähnte der Bundesverkehrsminister nicht.